Wilfried Fischer
Musikerziehung in den USA
Erfahrungen einer zusammen mit Hans Günther Bastian
unternommenen Studienreise
Dass der folgende Bericht über eine Studienreise, die bereits im
Jahre 1991 (vom 22.09. bis 13.10. 91) stattfand, erst heute erscheint,
bedarf sicherlich einer besonderen Rechtfertigung.
Nach der Publikation der Studie: "Musik(erziehung) und ihre Wirkung".
Eine Langzeitstudie an Berliner Grundschulen" von Hans Günther
Bastian und Mitarbeitern im Jahre 2000 wird in der Öffentlichkeit
völlig zu Recht die Frage diskutiert, welche Konsequenzen aus den
eminent wichtigen Ergebnissen für die Musikerziehung an allgemeinbildenden
Schulen zu ziehen sind. Denn zweifellos stehen die Resultate in engem
Zusammenhang mit der besonderen Situation der Berliner Versuchsschulen,
bei denen es sich ja um Schulen mit erweitertem Musikunterricht handelt.
Wenn also sichergestellt werden soll, dass Musikunterricht - neben seinen
eigentlichen, für die Musik und für das Musizieren aufschließenden
Wirkungen - auch unter weniger komfortablen Bedingungen, die schon eh
und je postulierten persönlichkeitsbildenden Faktoren begünstigt,
wird man weiter forschen, vor allem auch weitere Schulversuche unternehmen
und wissenschaftlich begleiten müssen.
In dieser Situation dürften Erfahrungen mit anderen musikpädagogischen
Systemen hilfreich sein, weil sie dazu beitragen können, festgefahrene,
ja möglicherweise sogar verkrustete Vorstellungen über das,
was unter Musikunterricht an allgemein-bildenden Schulen zu verstehen
sei, aufzubrechen.
Diese Überlegung hat mich dazu veranlasst, den folgenden Beitrag,
der bislang lediglich als Erfahrungsbericht für das damalige Bundeswisssenschaftsministerium
diente, für das IBFF-Forum noch einmal "auszugraben".
Vorbemerkung
Obwohl uns die Studienreise in die USA nur in vier der insgesamt 51 amerikanischen
Bundesländer führte, lassen sich die zahlreichen Eindrücke
mosaikartig zu einem verallgemeindernden Bild der amerikanischen Musikerziehung
zusammen-fassen.
Danach wurde zunächst einmal der bereits in einschlägigen Publikationen
(Gieseler 1969; Gruhn 1984; Shambopugh 1984; Sonntag 1984) dokumentierte
Eindruck bestätigt, wonach ein Hauptziel des amerikanischen Musikunterrichts
darin besteht, die Voraussetzungen für das praktische Musizieren
- sei es im Chor, sei es im Orchester, in Big Bands oder Combos - zu schaffen.
Dementsprechend ist die Musikarbeit an amerikanischen Schulen darauf ausgerichtet,
durch die Vermittlung der Fähigkeit zum Musiklesen und ?schreiben
dem aktiven Musizieren zu dienen. "Music education" meint -
jedenfalls in der High School - die Wahl einer "band", eines
"orchestras" oder eines "choirs", an dem regelmäßig,
und das heißt: an jedem Schultag, mitgearbeitet wird. Zwar werden
an vielen Schulen durchaus auch Kurse für "non performance groups"
angeboten, und zwar Kurse zur Musikgeschichte, Musiktheorie oder musikalischen
Analyse, aber das Interesse der Schüler konzentriert sich eindeutig
auf die performance groups, in denen sich musik-praktische Erfahrungen
mit einem Zugewinn an musiktheoretischer Kompetenz - soweit sie dem praktischen
Musizieren dient oder unmittelbar aus ihm abgeleitet wird - verbindet.
Im folgenden sollen die wichtigsten Eindrücke der Studienreise zur
amerikanischen Musikerziehung zusammengefasst werden, soweit sie geeignet
sind, der deutschen Musikerziehung neue Impulse zu geben.
1. Musik als Wahlfach (Junior und Senior High School)
Schwerpunkt: performing groups
Im Unterschied zur deutschen Musikerziehung in der Sekundarstufe I, die
davon ausgeht, dass Musikunterricht für alle Schüler angeboten
werden muss (obwohl sich auch dieses Prinzip aus Mangel an fachlich vorgebildeten
Musiklehrern bzw. aus Mangel an Planstellen vielerorts nicht realisieren
lässt), wird das Fach Musik in den USA in den auf die Elementary
School (Klasse 1?6) folgenden Schulstufen (Junior High School) lediglich
als Wahlfach angeboten. In den performance groups (Chor, Orchester, Big
Band) und non performance groups (Kurse zur Musikgeschichte usw.) finden
sich also nur Schüler zusammen, die sich freiwillig für das
Fach Musik entschieden haben und von daher eine zumeist hohe Motivation
für den angebotenen Unterricht mitbringen, was zu einem - im Vergleich
zu deutschen Verhältnissen, die in der Regel durch gravierende Disziplinprobleme
gekennzeichnet sind - beeindruckenden Arbeitsklima führt. In allen
von uns besuchten Musikstunden an Junior und Senior High Schools arbeiteten
die Schüler engagiert und interessiert mit. Die offenbar hohe Motivation,
die sich aus der Wahl für ein selbst bestimmtes Interessengebiet
ergab, führte dazu, dass selbst in kritischen Situationen (der Lehrer/die
Lehrerin wendet sich einzelnen Schülern zu, um Hilfestellungen zu
geben o. ä.) keinerlei Disziplinprobleme auftraten - ein für
einen deutschen Musikpädagogen mit Erfahrungen in der Sekundarstufe
I kaum vorstellbares Phänomen.
Da der Unterricht in den High Schools als Ganztagsunterricht stattfindet,
bleibt von der Stundentafel her genügend Raum, um das Wahlfach jeden
Vormittag anzubieten. D.h.: wer sich für eine der performance groups
entschieden hat, erhält jeden Vormittag eine Stunde Musikunterricht
im Sinne einer Chor-, Orchester- oder Big Band-Probe. In diesen Unterrichtsstunden
steht zwar das aktive Musizieren im Vordergrund, aber es ist keineswegs
so, dass es dabei lediglich um eine Verbesserung der manuellen Fähigkeiten
ginge, wie Kritiker der amerikanischen Schulmusik behauptet haben. Mehrere
amerikanische Musikerziehungs-Programme betonen vielmehr die Notwendigkeit
einer "comprehensive musicianship", d.h. die Verbindung von
performance und music theory, wie sie durch eine ständige Rückkopplung
vom praktischen Musizieren auf den jeweiligen musiktheoretischen background
anzustreben ist. An der Junior High School "Greco" in Tampa
- um nur ein von uns erlebtes Beispiel zu nennen - erläuterte eine
Musikerzieherin im Gespräch über ihre performing groups die
von ihren Schülern angefertigte "time-line", d. h. eine
an der Wand des Musikraums erstellte Musikgeschichts-Dokumentation. In
diese "time-line" werden alle mit den Schülern erarbeitete
Musikstücke musikgeschichtlich eingeordnet. Die zu Grunde gelegten
Kompositionen werden also nicht nur erarbeitet, sondern auch besprochen
und gleichermaßen unter musiktheoretischem wie musikgeschichtlichem
Aspekt analysiert. Ein entsprechendes Curriculum, das allen Kollegen zur
Verfügung steht, gibt für ein solches methodisches Vorgehen
die erforderlichen Erläuterungen.
Überhaupt ist das Wort "program" eines der am häufigsten
verwendeten Wörter im Rahmen der amerikanischen Musikpädagogik.
Es gibt Programme für "beginning bands", für "intermediate
bands" oder "advanced bands" ebenso wie für Kurse
zur Musiktheorie und Musikgeschichte. Die dadurch in gewisser Weise bedingte
Gleichschaltung der amerikanischen Musikerziehung - Lehrer verschiedener
Bundesländer gestalten ihren Unterricht nach identischen, z.T. fast
rezeptologisch aufgeschlüsselten Unterrichtsprogrammen - hat jedoch
auch ihre Vorteile. Zwar ist der Lehrer, was die Auswahl und didaktische
Aufbereitung des Stoffes betrifft, im wesentlichen so etwas wie ein "ausführendes
Organ", zumal ihm für alle Unterrichts-inhalte einschlägige
Curricula zur Verfügung stehen. Das heißt aber auch: der Lehrer
ist weitgehend von inhaltlicher Vorbereitung entlastet und kann sich daher
ganz um die Probleme der einzelnen Schüler kümmern, den Lernprozess
initiieren, kontrollieren und überprüfen.
2. Instrumentalunterricht in der Schule
Anders als in Deutschland, wo die Ausbildung von Kindern und Jugendlichen
auf einem Instrument bzw. im Sologesang der privaten Initiative der Eltern
und damit vor allem den städtischen Musikschulen überlassen
wird, findet der Instrumental-unterricht in den Vereinigten Staaten an
den Schulen selbst statt. In der Elementary School wird den Schülern
auf freiwilliger Basis Gruppenunterricht im Instrumental-spiel angeboten
(Blockflöte und Klavier: ab spätestens dem 4. Schuljahr; Streich-instrumente:
ab spätestens dem 5. und Blasinstrumente ab spätestens dem 6.
Schuljahr).
In den High Schools kommt das Angebot an Instrumentalunterricht natürlich
nur den Mitgliedern der performance groups zugute: alle beteiligten Schüler
erhalten pro Woche eine Stunde kostenlosen Instrumentalunterricht. Wie
wir erfuhren, nehmen darüber hinaus viele Schüler noch privat
weiteren Unterricht, z.B. Klavierunterricht.
Die Verbindung von methodisch aufgebauter Unterweisung in den Chor-, Orchester-
oder Big Band-"Proben" und regelmäßiger Schulung
durch instrumentalen Einzel- oder zumindest Gruppenunterricht führt
denn auch zu ganz erstaunlichen Ergebnissen der musikalischen Ensemblearbeit.
Kein Wunder, dass sich die amerikanischen High Schools nicht um Zulauf
für die angebotenen performance groups zu sorgen brauchen: Big Bands
mit über 60 Mitgliedern, Chöre mit über 50 Mitgliedern
und Sinfonieorchester mit ebenso viel Teilnehmern sind, soweit wir uns
kundig machen konnten, an der Tagesordnung - ganz im Gegensatz zu deutschen
weiterführenden Schulen, an denen die Teilnahme an musikalischen
Ensembles weder als Pflicht- noch als Wahlfach anerkannt wird und daher
zusätzlichen Einsatz der Schüler verlangt, was sich allzu oft
in nur geringer Resonanz auf die musik-praktischen Angebote niederschlägt.
3. Räumliche Ausstattung des Musikunterrichts
Da die amerikanische High Schools in der Regel als Mittelpunktschulen
konzipiert sind, handelt es sich zumeist um sehr große Schulen mit
mindestens 2.000 Schülern. Dennoch ist es aus der Sicht deutscher
Verhältnisse beeindruckend, dass für den Musikunterricht im
Allgemeinen drei ca. 140 m2 große, professionell ausgestattete und
akustisch gegeneinander isolierte Probenräume vorgesehen sind, die
zumeist in einem eigenen Gebäude ("music wing" oder music
suite") zusammengefasst sind. Dort, wo eine enge Anbindung der Schule
an das kulturelle Leben der jeweiligen Gemeinde gegeben oder vorgesehen
ist, gehört zur räumlichen Ausstattung des Musikunterrichts
auch noch ein "auditorium", d.h. ein großer Konzertsaal
mit ca. 900 Plätzen, der allerdings nicht nur für Veranstaltungen
der Schule, sondern auch für kulturelle Anlässe im Rahmen des
Gemeindelebens benutzt wird.
Für die als "band director" oder "choir director"
tätigen Musiklehrer sind neben den Proberäumen auch noch angrenzende
Büroräume, ausgestattet mit Schränken, Klavier, Monitoren
und Phonoanlage vorgesehen. Ergänzt wird die räumliche Ausstattung
durch Noten - bzw. Instrumentalräume, die ebenfalls von den Proberäumen
her zu erreichen sind.
Als Besucher waren wir vor allem von der Tatsache beeindruckt, dass die
für den Musikunterricht vorgesehenen Räume funktionell auf den
tatsächlichen Raumbedarf und eine angemessene Raumausstattung abgestimmt
sind - ganz im Gegensatz zu deutschen Verhältnissen, die i.a. dadurch
gekennzeichnet sind, dass der Musikunterricht in Klassen normaler Größe
erteilt werden und oftmals ohne die eigentlich erforderlichen Nebenräume
auskommen muss. Man kann schon fast sagen, dass sich der unterschiedliche
Stellenwert, der dem Musikunterricht in der amerikanischen bzw. deutschen
Öffentlichkeit zuerkannt wird, bereits an den jeweiligen äußeren
Bedingungen des Unterrichts ablesen lässt.
4. Einbindung in das öffentliche Leben
Die besondere Wertschätzung, die die auf praktisches Musizieren
und performance ausgerichtete amerikanische Musikerziehung in der Öffentlichkeit
genießt, hängt natürlich auch damit zusammen, dass es
eine enge Anbindung der performance groups an das öffentliche Kulturleben
gibt. So übernehmen z.B. speziell die Big Bands in der Regel besondere
Aufgaben im Gemeindeleben, indem sie als Marching Bands der musikalischen
Ausgestaltung von Sportveranstaltungen o.ä. dienen. Diese Einbindung
der Musikarbeit in das öffentliche Leben hat nicht nur den Vorteil,
dass die Öffentlichkeit die Musikerziehung an der jeweiligen Schule
mit Interesse verfolgt, sondern führt auf Seiten der Schüler
zu einer verstärkten Motivation, da die intensive Probenarbeit durch
öffentliche Auftritte belohnt wird.
Fazit
In Anbetracht der geringen Effektivität des Musikunterrichts an
vielen weiterführenden Schulen - wesentlich mit bedingt durch die
realitätsfremde Forderung, Musikunterricht als Pflichtfach für
alle Schüler anzubieten, unabhängig von ihren tatsächlichen
Interessen und dem Grad ihrer oftmals kaum mehr aufzubrechenden Vorprägung
- dürfte es an der Zeit sein, darüber nachzudenken, inwieweit
man die geschilderten Prinzipien der amerikanischen Musikerziehung, vor
allem das Prinzip der Wahlfreiheit, der besonderen Betonung des praktischen
Musizierens und des Instrumentalunterrichts in der Schule selbst, an deutschen
weiterführenden Schulen übernehmen sollte. Da natürlich
eine vollständige Angleichung an das amerikanische System schon aus
finanziellen Erwägungen heraus illusorisch bleiben muss - denn die
Effektivität der amerikanischen performing groups ist ohne Zweifel
an die vorhandene üppige Raumausstattung gebunden - sollten zumindest
Schulversuche eingerichtet werden, die im Zusammenhang mit wissenschaftlicher
Begleitung die Ergebnisse eines durch amerikanische Erfahrung inspirierten
Musikunterrichts mit den Resultaten der herkömmlichen deutschen Schulmusik
zu vergleichen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen gestatten. Dabei
muss natürlich bedacht werden, dass das amerikanische Wahlfachsystem
nur in einer Ganztagsschule zu realisieren wäre.
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